Die Europawahl 2024 vor dem Finale am 9. Juni 2024. Und was das mit Sozialpolitik zu tun hat oder haben könnte

Eigentlich hat die EU in der Sozialpolitik keine Zuständigkeit, das sollen die Mitgliedsstaaten in eigener Verantwortung nationalstaatlich machen. Aber grau ist alle Theorie und in der wirklichen Wirklichkeit hat sich schon seit langem eine eigenständige „EU-Sozialpolitik“ herausgebildet und das europäische Recht und vor allem die europäische Rechtssprechung über den EuGH üben immer intensiver Einfluss aus auf die (eigentlich) nationalstaatliche Ausgestaltung der Sozialpolitik.

Noch 2014 konnte man bei der Bundeszentrale für politische Bildung im Dossier zur Europäischen Union in dem Beitrag Sozialpolitik von Eckart D. Stratenschulte lesen: »Die Sozialpolitik gehört nicht zu den Kompetenzen der Europäischen Union. Ihre Aufgabe ist es lediglich, die Mitgliedstaaten auf einigen Feldern der Beschäftigungs- und Sozialpolitik zu unterstützen. Die meisten Maßnahmen der europäischen Sozialpolitik werden nach der offenen Methode der Koordinierung, die im Jahr 2000 eingeführt wurde, unterstützt. Nach diesem Verfahren vergleichen die Mitgliedstaaten die Ergebnisse ihrer Politik in einem Bereich und tauschen ihre Erfahrungen aus.«

Gerade die vergangenen Jahre haben immer öfter zeigen können, dass die Bedeutung der europäischen Ebene – und damit des Europäischen Parlaments – in vielen sozialpolitisch relevanten Handlungsfeldern zugenommen hat.

Eine gute Zusammenfassung wie auch eine Herausarbeitung dessen, was sich viele Akteure im Sozial- und Gesundheitswesen wünschen oder erhoffen von der neuen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments hat im Dezember 2023 der „Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge“ veröffentlicht:

➔ Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (2024): Europa sozial machen. Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. zur Wahl des Europäischen Parlaments 2024, Berlin, Dezember 2023

Dazu berichtet der Deutsche Verein:

»Die Europäische Integration und die Gründung der Europäischen Union ist eines der erfolgreichsten politischen Friedensprojekte der neueren Geschichte. Entstanden aus dem Schrecken zweier Weltkriege und in der Hoffnung auf Versöhnung sind wir in der Europäischen Union zu unserem Glück vereint. Wir sind überzeugt, dass in einer Zeit sich überlagernder Krisen eine friedliche, lebenswerte Zukunft nur gemeinsam gesichert werden kann. Europa lebt von der uneingeschränkten Achtung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Diese Werte verteidigen wir gemeinsam gegen populistische, nationalistische oder anti-demokratische Strömungen. Daher ist es Aufgabe der Europäischen Union, zivilgesellschaftliche Strukturen zu stärken. Starke gemeinnützige Organisationen und Kommunen bauen mit ihren sozialen Diensten soziale Unterschiede und Spaltungen ab und arbeiten für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen europäischen Regionen.

Die Bewältigung von Krisen und politischen Herausforderungen wird mehr und mehr vom Ausnahmefall zum allgemeinen Handlungsmodus der europäischen Politik. Die nun endende Legislatur war geprägt von der Corona-Pandemie, der sich verschärfenden Klimakrise, humanitären Notlagen an den EU-Außengrenzen, dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine sowie den daraus resultierenden Fluchtbewegungen und gestiegenen Energie- und Lebenshaltungskosten. Die herausfordernden Ereignisse und Entwicklungen der letzten fünf Jahre haben erneut deutlich gemacht, dass es eine handlungsfähige EU und ein geeintes Europa braucht, um auf aktuelle Problemlagen zu antworten. Bei der Bewältigung der multiplen Krisen erwiesen sich die europäischen Institutionen als reaktions- und handlungsfähig. Für zukünftige Szenarien der Krisenbewältigung gilt es allerdings, höhere Anforderungen an Transparenz und demokratische Legitimation zu stellen. Die Frage der Weiterentwicklung des europäischen Institutionengefüges bleibt bestehen, um die EU nach innen und außen resilienter zu machen. Auch zeigten die Krisenlagen Versäumnisse in der transnationalen Koordinierung zum Beispiel im Bereich der Asylpolitik, im Bereich des Gesundheitswesens und der sozialen Infrastruktur auf. Die Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten in Bereichen der Grundversorgung muss weiter intensiviert und insbesondere müssen kommunale Kooperationen verstärkt werden.

Aus sozialpolitischer Sicht unterschied sich das europäische Krisenmanagement fundamental vom Umgang mit der Finanz- und Schuldenkrise ab 2008. Mit der Schaffung von Instrumenten zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktstabilisierung als Reaktion auf die Corona-Pandemie wurden soziale Verwerfungen eingedämmt und eine schnelle wirtschaftliche Erholung ermöglicht. Ein europäisches Auseinanderdriften, wie im Nachgang der Schuldenkrise, konnte dadurch weitestgehend verhindert werden. Es gilt nun von diesen Erfahrungen und den sozialpolitischen Aspekten des Krisenmanagements zu lernen. Die letzten fünf Jahre haben gezeigt, dass eine Aufwertung der sozialen Dimension der EU zu konkreten Erfolgen in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den Mitgliedstaaten führte. Es gilt an diese Fortschritte anzuknüpfen und bestehende soziale Herausforderungen zu adressieren, indem das soziale Europa weiter ausgebaut wird.

Der Deutsche Verein hat hierfür nachstehend Empfehlungen in fünf Themenbereichen für ein soziales Europa formuliert. Mit seine Empfehlungen richtet sich der Deutsche Verein an die Abgeordneten des zukünftigen Europäischen Parlaments, an die neu eingesetzte Europäische Kommission sowie an nationale Ministerien, die über ihre Einbindung in den Europäischen Rat an europäischen Entscheidungsprozessen beteiligt sind.«

➔ Bitte schauen Sie sich einmal die Ausführungen in dem Papier genauer an.

Was sagt die Freie Wohlfahrtspflege?

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) hat anlässlich der Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni 2024 ein umfassendes Europapolitisches Erwartungspapier veröffentlicht. Das finden Sie hier:

➔ BAGFW (2024): Europapolitisches Erwartungspapier der BAGFW, Berlin/Brüssel, März 2024

Und was sagen die Gewerkschaften?

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat sich ebenfalls zu Wort gemeldet. Die haben dieses Papier veröffentlicht:

DGB-Wahlcheck zur Europawahl 2024

Darin werden die die wichtigsten Aussagen aus den Europa-Wahlprogrammen von Union, SPD, FDP, Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und BSW zu sechs Schwerpunktthemen verglichen: Transformation, Produktion, Regionen, Gute Arbeit, Mitbestimmung und Arbeitsmobilität.

Das ist erst einmal „nur“ eine Gegenüberstellung der Positionen der einzelnen Parteien zu den genannten Themenfeldern.

Aber der DGB hat auch ein eigenes Positionspapier zur Europawahl 2004 veröffentlicht, bereits im Sommer 2023. Das finden Sie hier:

➔ DGB (2023): Forderungen des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften an die Parteien, Berlin, Juni 2023