Was wissen wir (nicht) über die Nichtwähler?
(22.05.2024) Im Deutschlandfunk gab es im Februar diese Diskussionssendung:
➔ DLF: Warum Nichtwähler den Wahlurnen fernbleiben (14.02.2024)
»2024 gibt es Kommunal- und Landtagswahlen sowie die Europawahl. Im Bremer Norden, wo bei der Bürgerschaftswahl nur 43 Prozent ihr Wahlrecht ausübten, diskutieren Menschen von der Basis, Bremens Bürgermeister und Autorin Nora Bossong über die Gründe.«
Und bereits aus dem Jahr 2021 – kurz vor der letzten Bundestagswahl – stammt diese Diskussionssendung von Deutschlandfunk Kultur:
➔ Deutschlandfunk Kultur: Nichtwähler: Wie steigern wir die Wahlbeteiligung? (25.09.2024)
»Am Sonntag ist es wieder soweit: Rund 60,4 Millionen Wahlberechtigte sind aufgerufen, einen neuen Bundestag zu wählen. Doch viele Menschen nehmen ihr Recht nicht wahr. Wie sinnvoll ist eine Wahlpflicht? Ein Wahlrecht für alle?«
Auch ich habe in meinem Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ den einen oder anderen Beitrag geschrieben, bei dem es um die Nichtwähler ging:
➔ Eine Wahlnachlese: Wie war das eigentlich mit den „Abgehängten“ und den Nichtwählern? (04.10.2017)
➔ Soziale Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung – und durch die Wahlen? Eine sozialpolitische Herausforderung (21.05.2017)
(16.05.2024) Immer wieder taucht das Argument auf, dass die AfD bisherige Nichtwähler motiviert, (wieder) zur Wahl zu gehen. Aber stimmt das?
»In der politikwissenschaftlichen Literatur ist umstritten, ob populistische Parteien die Wahlbeteiligung steigern. In diesem Kapitel untersuche ich, ob die Alternative für Deutschland bei der Bundestagswahl 2021 frühere Nichtwähler mobilisieren konnte. Dafür verwende ich Daten aus den 299 Wahlkreisen, aus fast 1.000 Stadtteilen sowie Umfragedaten der German Longitudinal Election Study. Die Analysen zeigen, dass es der AfD – im Gegensatz zu 2017 – nicht überproportional gelang, Nichtwähler zu mobilisieren. Zwar schneidet sie in Gegenden mit geringer Wahlbeteiligung besser ab, aber Veränderungen ihres Wahlergebnisses hängen nicht mit Veränderungen der Wahlbeteiligung zusammen.« So die Zusammenfassung dieses Beitrags:
➔ Armin Schäfer (2024): Steigert die AfD die Wahlbeteiligung? Die Nichtwähler:innen bei der Bundestagswahl 2021, in: Harald Schoen und Bernhard Weßels (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen zur Bundestagswahl 2021, Wiesbaden 2024, S. 87-116*
*) Sie können das Buch, in dem der Beitrag enthalten ist, im Hochschulnetz kostenlos über Springer Link downloaden.
(13.05.2024) Die Zahl der Stammwähler nimmt stetig ab. Um Wahlergebnisse zu verbessern, müssen die Parteien enorm mobilisieren. Damit rückt eine lange verkannte Gruppe in den Fokus:
➔ Daniel Delhaes (2024): Wie groß der Einfluss der Nichtwähler auf Wahlen in Deutschland ist, in: Handelsblatt Online, 09.04.2024
Und dann noch zwei Materialhinweise aus der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU):
➔ Jochen Roose (2019): Zwei Kreuze für die Bürgerpflicht. Eine qualitative Studie über die Motivationen zur Wahl und Nichtwahl bei der Bundestagswahl 2017, Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung, Februar 2019
Und für die letzte Bundestagswahl (2021) gibt es diese Auswertung:
➔ Sabine Pokorny (2022): Wählen oder nicht wählen? Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zu Nichtwahlmotiven bei der Bundestagswahl 2021, Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung, April 2022
(04.05.2024) Hier eine weitere Materiallieferung. Der erste Beitrag müsste Ihnen gefallen: nur eine Seite:
➔ Gerd Grözinger (2024): Wahlbeteiligung: Nichtwahl als Wahlhandlung, in: Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Heft 1/2024
Eine explizit sozialpolitische Thematisierung der Nichtwähler finden Sie in diesem Policy Paper, das bereits 2022 veröffentlicht wurde:
➔ Andrea Paulus et al. (2022): Sozialpolitik ist Demokratiepolitik: Die Rolle der sozialen Sicherung für politische Partizipation, München: Zentrum für neue Sozialpolitik, Mai 2022
Hintergrundinformation: Das Zentrum für neue Sozialpolitik ist ein Think Tank, dem es vor allem um die Propagierung eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ geht.
(29.04.2024) Fangen wir die Materiallieferung an mit einigen älteren Veröffentlichungen zum Thema, die von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht wurden:
➔ Manfred Güllner (2013): Nichtwähler in Deutschland, Berlin 2013
➔ Michael Kaeding und Stefan Haußner (2016): Gut bekannt und unerreicht? Soziodemografisches Profil der Nichtwähler_innen, Berlin 2016
Über SpringerLink im Hochschulnetz können Sie dieses Buch von Kaeding et al. (2016) kostenlos downloaden:
➔ Michael Kaeding et al. (2016): Nichtwähler in Europa, Deutschland und Nordrhein-Westfalen. Ursachen und Konsequenzen sinkender Wahlbeteiligung, Wiesbaden 2016
➔ Arne Cremer (2016): Gut bekannt und unerreicht? Nichtwähler ̲ innen und Wahlbeteiligung, Berlin 2016
➔ Maximilian Blaeser et al. (2016): Wahl und Nichtwahl. Politikeinstellungen und Politik-Hoffnungen in Göttinger Stadtvierteln, Berlin 2016
➔ Beate Küpper (2017): Das Denken der Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Einstellungsmuster und politische Präferenzen, Berlin 2017
Und hier dann zwei neuere Studien:
➔ Lennart Hagemeyer et al. (2023): Gelegenheitswähler*innen auf der Spur. Motive der Nichtwahl und Wege zur Stärkung der Wahlbeteiligung, Berlin 2023
»Neben Wählern und denen, die Wahlen grundsätzlich und aus Überzeugung fernbleiben, existiert innerhalb der wahlberechtigten Bevölkerung noch eine dritte Gruppe: die Gelegenheitswähler. Wie blicken sie auf das demokratische System und Politik insgesamt? Was motiviert ehemalige Nichtwähler, wieder zur Wahl zu gehen? Was demotiviert sie? Wie werden unterschiedliche Wahlkampfformate wahrgenommen und welche Rolle spielen nicht unmittelbar politische Akteure bei der Mobilisierung von Nicht- und Gelegenheitswählern? Diesen Fragen geht die vorliegende qualitative Studie mithilfe von Tiefeninterviews und Fokusgruppen in sechs unterschiedlichen Wahlkreisen nach und entwickelt verschiedene Personas von Gelegenheitswählern sowie mögliche Strategien zur Mobilisierung.«
➔ Armin Schäfer (2023): Wer fehlt an der Wahlurne? Sozialräumliche Muster der Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen, Berlin 2023
»Die Beteiligung an Wahlen ist in Deutschland über die Jahrzehnte nicht nur gesunken, sondern auch ungleicher geworden. Der Abstand zwischen den Wahlkreisen mit der höchsten und der niedrigsten Wahlbeteiligung ist gewachsen. Die Muster der Nichtwahl sind dabei eindeutig: Je ärmer ein Wahlkreis oder ein Stadtteil ist, desto niedriger fällt die Wahlbeteiligung dort aus. Die Wahrscheinlichkeit, nicht zu wählen, ist bei Menschen mit geringem Einkommen und niedriger formaler Bildung besonders hoch.
Im Vergleich zu 2017 hat sich die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2021 so gut wie nicht verändert. Auch eine nennenswerte Mobilisierung von Nichtwählern hat von 2017 auf 2021 nicht stattgefunden. In keinem Wahlkreis veränderte sich die Wahlbeteiligung um mehr als fünf Prozentpunkte, und wo sie in der Vergangenheit niedrig (oder hoch) ausfiel, war dies auch 2021 der Fall. Wie sich die Wahlbeteiligung entwickelt hat und welche Muster der Wahlteilnahme und -abstinenz sich finden lassen, wird in dieser Studie untersucht. Grundlage dieser Studie von Prof. Dr. Armin Schäfer sind sowohl räumliche Daten auf der Ebene der 299 Wahlkreise und von fast 1.000 Stadtteilen als auch Individualdaten, die über Umfragen erhoben wurden.«
Übrigens haben Armin Schäfer et al. bereits 2013 diese Studie über die Bertelsmann Stiftung veröffentlicht:
➔ Armin Schäfer et al. (2013): Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2013
»Die oberen zwei Drittel der Gesellschaft haben erheblich größeren Einfluss auf die Zusammensetzung des derzeitigen Bundestages genommen als das untere Drittel. Demnach sind bei der Bundestagswahl im September 2013 überdurchschnittlich viele Menschen aus sozial schwachen Milieus nicht zur Wahl gegangen.
Es gilt: Je prekärer die soziale Situation in einem Gebiet, desto niedriger die Wahlbeteiligung. Bis zu 46 Prozentpunkte betrug bei der letztjährigen Bundestagswahl der Unterschied in der Wahlbeteiligung zwischen einzelnen Vierteln in ein und derselben Stadt. Die soziale Spaltung ist allerdings kein rein städtisches Phänomen. Die Ergebnisse in 640 bundesweit repräsentativen Stimmbezirken zeigen, dass auch in den ländlichen Gebieten die Wahlbeteiligung stark an den Sozialstatus gekoppelt ist. Einen besonders starken statistischen Zusammenhang ermittelt die Studie zwischen Wahlbeteiligung und Arbeitslosigkeit.
Zur Studie: für sehr kleine räumliche Einheiten (bundesweit 1.004 Stadtteile und 640 repräsentative Stimmbezirke) wurden die Zusammenhänge zwischen den Lebensverhältnissen und der Wahlbeteiligung vor Ort identifiziert. Dies geschah auf Grundlage kommunaler Arbeitslosendaten sowie von Milieudaten und anderen sozialräumlichen Indikatoren des Marktforschungsinstituts microm. Für einzelne Stadtteile und Städte, sowie repräsentativ für das gesamte Bundesgebiet, ermöglichte die statistische Auswertung durch Dr. Schäfer (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung) und infratest-dimap verbindliche Aussagen über die sozialräumlichen Unterschiede und die soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013.«
Dazu ebenfalls aus der Bertelsmann Stiftung:
➔ Robert Vehrkamp (2015): Politische Ungleichheit – neue Schätzungen zeigen die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2015
»Erstmalig durchgeführte Schätzungen zur Wahlbeteiligung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2013 zeigen: Die Wahlbeteiligung der sozialen Oberschicht liegt um bis zu 40 Prozentpunkte über der Wahlbeteiligung der sozial schwächeren Milieus. Die sozial benachteiligten Milieus sind im Wahlergebnis um bis zu ein Drittel unterrepräsentiert. Ihr Anteil an den Nichtwählern ist fast doppelt so hoch wie ihr Anteil an allen Wahlberechtigten. Gleichzeitig sind die sozial stärkeren Milieus deutlich überrepräsentiert. (Wahl-)Umfragen unterschätzen die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung systematisch.«
Auch aus der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung gab es schon vor Jahren Veröffentlichungen zum Thema Nichtwähler:
➔ Viola Neu (2012): „Dann bleib ich mal weg”. Der Mythos der „Partei” der Nichtwähler, St. Augustin/Berlin 2012
»Nichtwähler sind immer wieder Thema nicht nur der politischen Seiten der Medien, sondern auch der Feuilletons. Nichtwahl wird häufig im Zusammenhang mit Demokratie-, Politik-, Politiker- und Parteienverdrossenheit diskutiert. Die Nichtwähler werden dabei meist als eine homogene Gruppe verstanden, der ähnliche Motive bei der Wahlabstinenz attestiert wird. Doch stimmt das?«
Und dann schauen wir noch bei einer anderen Parteistiftung vorbei, der den Linken nahestehenden Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dort finden Sie beispielsweise diese Veröffentlichung aus dem Jahr 2017:
➔ Horst Kahrs (Hrsg.) (2017): Wahlenthaltung. Zwischen Abwendung, Verdrossenheit und Desinteresse, Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2017
»Die Beteiligung an Wahlen zu demokratisch-repräsentativen Parlamenten war in Deutschland in den zurückliegenden Wahlen erheblich niedriger als vor 40 Jahren. Oft riefen Kommentatoren am Wahlabend eine virtuelle «Partei der Nichtwähler» zur eigentlichen Wahlsiegerin aus. Eine sinkende Wahlbeteiligung wird vielfach als «Gefahr für die Demokratie» gewertet, auch als massenhafte Kritik an einem «undemokratischen Zustand der Demokratie», der «Demokratieverdrossenheit» hervorrufe; ebenso als Kritik am Zustand «der Parteien», an ihrer vermeintlichen Ununterscheidbarkeit oder als Ergebnis ihrer Lebens und Alltagsfremdheit. Alle diese Interpretationen unterstellen ein gemeinsames Motiv und eine gewisse Homogenität der Wahlenthalter. Zumindest verdichten, verkürzen sie auf eine Deutung, sodass diejenigen, die sich nicht beteiligt haben, gleichwohl zu einem nicht unbedeutenden Faktor in der politischen Debatte werden.
In der Tat: Wähler der Unionsparteien, der Linkspartei, der SPD, der Grünen, generell alle, die bei der nächsten Wahl nicht für dieselbe Partei stimmen und auch nicht zu einer anderen Partei wechseln, sondern zu Hause bleiben, eint womöglich ihre Enttäuschung über ihre zuvor bevorzugte Partei und die Abneigung,deshalb zu einer anderen Partei zuwechseln. Liegen dieser Entscheidung aber auch die gleichen Motive zugrunde, sind die Anlässe für die Enttäuschung identisch? Lässt sich also die Enttäuschung zum Beispiel über die Linkspartei mit der Enttäuschung über die Union, die sich aus bestimmten, aber sehr verschiedenen Erwartungen speisen kann, als«Parteienverdrossenheit» verallgemeinern,sodass im Sinne einer «Partei der Nichtwähler» von einem gemeinsamen Willen ausgegangen werden kann? Das ist mitnichten der Fall. So geben zum Beispiel auch Nichtwählerinnen und Nichtwähler in Befragungen an, bestimmte Parteien zu bevorzugen oder zuschwanken, ob sie zur Wahl gehen sollen oder nicht.«
Und von Horst Kahrs wurde von der Stiftung 2015 das veröffentlicht:
➔ Horst Kahrs (2015): Wahlenthaltung als Klassenwahlverhalten. Zu neueren Befunden aus der Wahlforschung, Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2015