Immer diese Repräsentativität. Oder: Vorsicht ist die Mutter (nicht nur) der statistischen Porzellankiste

Wir haben uns ja schon eingehender mit den in der Wahlforschung und anderen Teilgebieten der modernen Sozialforschung so bedeutsamen Umfragen beschäftigt. In der aktuellen sozialpolitischen Diskussion finden Sie nun ein „Lehrbuchbeispiel“, mit dem man aufzeigen kann, dass es immer angezeigt ist, genau hinzuschauen.

Es geht konkret um solche Meldungen: Bilanz zum Bürgergeld: Jobcenterbeschäftigte sehen kaum Verbesserungen: »Nur knapp jeder fünfte Jobcenterbeschäftigte glaubt, dass die Einführung des Bürgergelds eine Verbesserung gebracht hat. Etwa die Hälfte sieht eine Verschlechterung. Das ist das Ergebnis einer Befragung.« Auch das Fachmagazin für Sozialpolitik mit den großen Buchstaben, die BILD-Zeitung, hat das aufgegriffen: Das läuft falsch beim Bürgergeld! »Das Bürgergeld und dessen Erhöhung wird in Deutschland kontrovers diskutiert. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und mehrerer Universitäten zeigt: Sogar bei Jobcenter-Mitarbeitern stößt die aktuelle Praxis auf heftigen Widerstand!«

In diesen und anderen Artikeln werden dann solche Zahlen aufgerufen: »Die Mehrheit der Jobcenter-Beschäftigten hält die Sanktionsmöglichkeiten für untauglich. 73 Prozent lehnen die aktuelle Praxis laut DIW-Studie ab. Nur 21 Prozent befürworten die Einschränkungen der Sanktionsmöglichkeiten bei Fehlverhalten. Die Erhöhung des Bürgergelds halten 58 Prozent für falsch. Höhere Freibeträge für Schonvermögen sehen 55 Prozent kritisch.«

Klare Sache, wird der schnelle Leser senken: die Mehrheit der Beschäftigten in den Jobcentern findet das also schlecht. Und die müssen es ja wissen.

Schauen wir genauer hin.

Auch der Beitrag Jobcenter-Mitarbeiter üben massive Kritik am Bürgergeld von Jan-Peter Bartels scheint die angesprochene Aussagen schon im Titel zu stützen. „Die“ Jobcenter-Mitarbeiter steht da. Das wird bei den meisten hängen bleiben.

In dem Beitrag findet man diesen Hinweis, wie man zu den Zahlen gekommen ist: Für die Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Kooperation mit der Universität Bochum wurden die Antworten ausgewertet, die man von 1.894 Mitarbeitenden aus sieben Jobcentern in Nordrhein-Westfalen im Januar und Februar dieses Jahres bekommen hat.

Spätestens jetzt muss man in das Original schauen. Es gibt zumindest eine veröffentlichte Zusammenfassung der Studienergebnisse. Die finden Sie hier:

➔ Fabian Beckmann et al. (2024): Erfahrungsbilanz Bürgergeld: Jobcenterbeschäftigte sehen kaum Verbesserungen, in: DIW Wochenbericht, Nr. 17/2024
»Im Januar 2023 hat in Deutschland das Bürgergeld das System der Grundsicherung abgelöst, begleitet von zahlreichen politischen und medialen Kontroversen. Nach einem Jahr Bürgergeldreform wurden Beschäftigte in sieben Jobcentern in Nordrhein-Westfalen befragt, um eine erste Bilanz zur Umsetzungspraxis zu ziehen. Die Jobcenterbeschäftigten sehen demnach das Bürgergeldgesetz mehrheitlich sehr skeptisch, aber mit Blick auf einzelne Reformaspekte finden sich auch differenzierte sowie vereinzelt positive Einschätzungen. Insbesondere die Einführung der Bagatellgrenze und die verbesserte Betreuung Langzeitarbeitsloser wurden mehrheitlich positiv beurteilt. Überwiegend negativ bewertet wurden hingegen die höheren Regelsätze und die neue Sanktionspraxis. Insgesamt gehen die Jobcenterbeschäftigten mehrheitlich davon aus, dass sich die Motivation und die Mitwirkung der Leistungsbeziehenden nicht verbessern und der bürokratische Aufwand nicht wesentlich verringert. Trotz dieser vorerst negativen Bewertung durch die Jobcenterbeschäftigten sollten erst weitere repräsentative Untersuchungen, auch bei den Bürgergeldbeziehenden, erfolgen. Die Politik sollte zur Versachlichung der Debatte beitragen und Stereotypen gegenüber Bürgergeldbeziehenden entgegenwirken.«

Nun gibt es vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Pressemitteilung zu der Studie:

Bürgergeld statt Hartz IV: Jobcenterbeschäftigte sehen kaum Verbesserungen (24.04.2024)

Und wenn Sie da mal reinschauen, dann können Sie am Ende der Mitteilung lesen:

»Auch wenn die Ergebnisse nicht repräsentativ sind, können die Befunde einen ersten Puzzlestein darstellen, um eine empirische Aussage zu den Auswirkungen der Bürgergeldreform zu treffen.«

Und Jürgen Schupp vom DIW, der an der Studie beteiligt war, wird mit diesen Worten zitiert:

„Für ein umfassendes evidenzbasiertes Urteil sollten vor allem die Ergebnisse des auf mehrere Jahre angelegten Evaluationsprogramms des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) abgewartet werden“, empfiehlt Schupp.

Auch darüber könnte man jetzt diskutieren, aber das wäre eine andere Baustelle.

Und wenn wir schon dabei sind: Ein Grundübel unserer Zeit – Fake News und ihr Eigenleben

Und angesichts der gerade für Wahlentscheidungen besonderen Bedeutung des Aspekts der „Stimmungsmache“ hier eines von vielen aktuellen Beispielen mit einem bitteren Unterton.

»Posts in sozialen Medien behaupten, dass Jobcenter ukrainischen Flüchtlingen den Autokauf finanzieren. Als Kronzeuge wird ein Gebrauchtwagenhändler genannt – der spricht inzwischen aber von einem „Missverständnis“«, so dieser Beitrag mit einer klaren Botschaft im Titel, mit der offensichtlich auf eine andere reagiert wird: Keine kostenlosen Autos für ukrainische Flüchtlinge. Zum Sachverhalt:

„Ukrainer kriegen in Deutschland Auto vom Jobcenter geschenkt“ – das behauptet ein Autohändler aus der Nähe von Bremen in einem inzwischen nicht mehr verfügbaren TikTok-Video. Ein ukrainischer Flüchtling habe ihn angewiesen, die Rechnung für einen erworbenen Wagen auf das Jobcenter des Landkreises, in dem er lebt, auszustellen und die Behörde habe diese beglichen. Der angebliche Beweis: ein Kontoauszug, laut dem 1.650 Euro von „Bundesagentur für Arbeit-Service-Haus“ für einen „PKW VW Passat“ überwiesen wurde. „Schmeiße deinen deutschen Ausweis weg – komm wieder her und sage, dass du aus der Ukraine geflüchtet bist“, so der Rat des Autohändlers.
Der betroffene Landkreis Rotenburg (Wümme) bestreitet den Vorgang: „Wir können diese Behauptung nach eingehender Prüfung nicht bestätigen. Das Jobcenter des Landkreises hat dieses Auto nicht bezahlt“, erklärte Sprecherin Christine Huchzermeier gegenüber dem ARD-Faktenfinder. Demnach habe es auch nicht, wie in dem Video angegeben, eine Überweisung an das Autohaus gegeben.
Schon bei dem als angeblichen Beweis vorgelegten Kontoauszug gibt es Widersprüche: Der Kauf des Autos fand laut Video am 24. April statt. Das von dem Händler vorgelegte Papier, laut dem der Betrag bereits überwiesen ist, wurde jedoch laut Aufdruck am gleichen Tag erstellt und gibt als Überweisungszweck eine Rechnung vom 30. August 2022 an.

Gegenüber der ARD erklärte der Händler: „Bei dem Video ist ein Missverständnis vorhanden deshalb wurde das Video auch gelöscht.“

Aber:

»Im Netz ist es jedoch weiterhin abrufbar, da es von vielen Accounts übernommen und weiterverbreitet wird. Allein auf einem für verschwörungsmythischen Inhalt berüchtigten YouTube-Kanal wurde eine bearbeitete Form fast 200.000 Mal abgerufen – und löste zahlreiche Hasskommentare aus.«