Schlimmer als ein Gefängnis? Zum Umgang mit den Bewohnern, Angehörigen und den Beschäftigten in den Pflegeheimen während der Corona-Pandemie
(06.06.2023) Hier ein Beitrag aus der Österreichischen Pflegezeitschrift, der für Ihre Arbeitsgruppe interessant sein könnte:
➔ Manuela Hödl und Daniela Schoberer (2023): Gibt es noch etwas, das Sie uns mitteilen möchten? Pflegepersonen und COVID-19, in: Österreichische Pflegezeitschrift, Nr. 3/2023
»Die COVID-19-Pandemie stellt das Pflegepersonal vor enorme Herausforderungen. Welche spe- ziellen Herausforderungen, Belastungen, aber auch Forderungen sich durch die Pandemie für Pflegepersonen ergeben, wurde in einem Survey erhoben. Kritik am System wurde am häufigsten genannt, gefolgt von der Forderung nach mehr Wertschätzung und finanzieller Entschädigung.«
(28.05.2023) Ich habe hier einen international vergleichenden Text zu der besonderen Betroffenheit der Pflegeheime aus dem ersten Jahr der Corona-Pandemie (veröffentlicht im Juli 2020, also nach der ersten schweren Corona-Welle) gefunden:
➔ Anja Declercq et al. (2020): Why, in almost all countries, was residential care for older people so badly affected by COVID-19? OSE Working Paper Series, Opinion Paper No. 23, Brussels: European Social Observatory (OSE), July 2020
»In many countries, residential care for older people was not prepared for a public health crisis: although it was very clear that frail older people were most vulnerable to COVID-19, these places, with the highest concentration of this population, did not have the necessary resources, had no plan, and became the focus of attention too late. As a consequence, the percentage of care home residents as a share of total deaths ranges from 24% in Hungary to 82% in Canada. The authors of this Opinion Paper argue that this is tragic evidence of how ageism taints the approach to care. The paper discusses what happened in residential care, why it happened, and what should be done.«
(24.05.2023) Gerade die alten und hochaltrigen Menschen in den Pflegeheimen standen von Anfang an immer wieder im Mittelpunkt derjenigen, die argumentiert haben, man müsse diese besonders verletzlichen Menschen besonders schützen. Dazu diese Veröffentlichung:
➔ Shari Adlung und Annabella Backes (2023): „Die Schwächsten der Gesellschaft“ – Repräsentationen hochaltriger Menschen im Corona-Risikodiskurs, in: E. Grittmann, K. Müller, C. Peil, & J. Pinseler (Hrsg.), Medien und Ungleichheiten. (Trans-)nationale Perspektiven auf Geschlecht, Diversität und Identität, Magdeburg: Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, 2023
»Ziel dieses Beitrags ist es, sich dem Alter als häufig vernachlässigter Ungleichheitskategorie sowohl theoretisch als auch empirisch zu nähern. Wir untersuchen, ob und wie hochaltrige Menschen im Corona-Risikodiskurs sichtbar werden und fragen nach den diskursiven Disziplinierungsaufforderungen, die am Alter formuliert werden. Zunächst beschreiben wir das Alter als besondere Ungleichheitskategorie, die einerseits durch ihre intersektionale Verflechtung mit Behinderung geprägt ist, andererseits durch ihre graduelle wie kategoriale Form. Daraus leiten wir zweitens ein methodisches Vorgehen ab, das auf Bild- und Textebene verschiedene Facetten der Repräsentation und (Un)Sichtbarkeit alter Menschen untersucht. Drittens, beschreiben und diskutieren wir die Teilhabe und Handlungsmacht alter Menschen im Diskurs und die Disziplinierungsanforderungen, die am Alter und an der Intersektion mit Behinderung plausibilisiert werden. Unsere Analyse zeigt, dass alte Menschen durch Mechanismen des Differenzierens, Hierarchisierens, Homogenisierens und Dehumanisierens ausgeschlossen und von der journalistischen Wir-Gruppe als ‚Andere‘ abgegrenzt werden. Weiterhin lesen wir im Material drei dominante Regierungsanweisungen: die Selbstdisziplinierung alter Menschen, die moralische Disziplinierung durch die Mehrheitsgesellschaft und eine autoritäre Regierung gegen die als verwirrt markierten alten Menschen.«
Bereits 2021, also im zweiten Pandemie-Jahr, wurde diese Veröffentlichung von der Friedrich-Ebert-Stiftung publiziert:
➔ Lisa Pelling (2021): An der Corona-Front. Die Erfahrungen der Altenpflegekräfte in neun europäischen Ländern – zusammenfassender Bericht, Stockholm: FES Nordic Countries, 2021
Auch Deutschland war damals eines der Länder, aus denen berichtet wurde. Hier die deutschen Befunde:
➔ Hildegard Theobald (2021): An der Corona-Front. Die Erfahrungen der Altenpflegekräfte in Deutschland, Stockholm: FES Nordic Countries, 2021
(07.05.2023) Sie wissen mittlerweile, dass das Betretungsverbot von Pflegeheimen in der ersten Corona-Pandemiephase eine von Anfang an sehr umstrittene Einschränkung von Grundrechten war – mit massiven Folgen, die auch damals schon von einigen vorausgesehen wurden. Hier nun der Hinweis auf einen scheinbar skurrilen Fall aus der Rechtswissenschaft:
➔ Tanja Podolski (2023): Tochter richtet im Fall des eigenen Vaters, in: Legal Tribune Online, 03.05.2023: »Die Staatsanwaltschaft Erfurt hat Anklage gegen eine Richterin erhoben. Sie hatte einem Pfarrer in der Pandemie Zugang zu einer Palliativpatientin in einem Pflegeheim verschafft. Das Problem: Pfarrer und Richterin sind Vater und Tochter.«
Und hier ein genereller Recherche-Tipp zum Thema Pflegeheime: Beim Deutschen Ärzteblatt gibt es dazu eine eigene Themenseite, auf der Sie alle Meldungen/Artikel sowohl aus der Prinz- wie auch aus der Online-Ausgabe chronologisch von neu nach alt sortiert finden:
➔ Deutsches Ärzteblatt: Themenseite Pflegeheime
(28.04.2023) Immer wieder taucht in der pflegewissenschaftlichen Diskussion der Begriff der „moralischen Verletzungen“ auf (vgl. als ein einführendes Beispiel zu diesem Thema die Vortragsfolien von Ruth Abramowski (2022): Moralische Verletzungen. Berufsethische Ansprüche und die Realität im Pflegealltag, 17.02.2022). Man kann sich vorstellen, dass das grundsätzlich vorhandene Problem von „moral distress“ in der Pflege in der Corona-Pandemie eine zusätzlich und verschärfte Ausprägung bekommen hat. Dazu dieser Fachaufsatz:
➔ A. Begerow und U. Gaidys (2022): „Ich stehe jeden Dienst mit mir selbst im Konflikt“–„Moral distress“ bei Altenpflegenden während der COVID-19-Pandemie, in: HeilberufeScience, Nr. 1/2022, S. 59–68
Und der besondere Stress-Aspekt wird auch in unserem Nachbarland Österreich diskutiert:
➔ Silvia Bauer et al. (2023): Stress among nursing staff and interventions in Austrian nursing homes. Results of a survey in the first and the second waves of COVID-19, in: HeilberufeSciences, 2023, published online: 01.02.2023
(28.04.2023) Ich möchte Sie aufmerksam machen auf ein groß angelegtes, vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung gefördertes Forschungsprojekt von Arbeitsgruppen aus der Charité und dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO), das zahlreiche Ergebnisse für Ihre Themenstellung zu Tage gefördert hat:
➔ Covid-Heim – Lehren aus der Corona-Pandemie für Strukturentwicklungen im Versorgungssetting Pflegeheim
»In der Corona-Krise wurden die deutschen Pflegeheime zu sogenannten Hotspots der Pandemie, verbunden mit der Tatsache, dass etwa jeder dritte an Covid-19 Verstorbene der Monate März und April 2020 in einer vollstationären Pflegeeinrichtung oder einer anderen Betreuungseinrichtung lebte. Ziele der Studie waren es, durch die Analyse unterschiedlicher Datengrundlagen ein möglichst umfassendes Bild der Krisensituation in deutschen Pflegeheimen in den Jahren 2020 und 2021 zu erhalten, die getroffenen Entscheidungen mit Blick auf Ihre Wirkungen auf Pflegebedürftige und Mitarbeitende zu analysieren und hieraus Schlussfolgerungen für notwendige Maßnahmen im Kontext des Infektionsschutzes in Pflegeheimen abzuleiten und Lehren auch für den Umgang mit anderen Viruserkrankungen zu ziehen.«
Auf der Seite finden Sie auch den Abschlussbericht dieses umfangreichen Projekts:
➔ Adelheid Kuhlmey et al. (2022): Lehren aus der Corona-Pandemie für Strukturentwicklungen im Versorgungssetting Pflegeheim. Endbericht des Projekts „Covid-Heim“, Berlin, 15.07.2022
Hier weitere Materialhinweise:
➔ Julia Weigt et al. (2023): Grenzen des Machbaren – Arbeitslast und -verdichtung in der stationären Langzeitversorgung von Pflegefachkräften in der Covid-19 Pandemie
Sie finden diesen und andere Beiträge in dem Sammelband:
➔ Heike Ohlbrecht und Astrid Seltrecht (Hrsg.) (2023): Pflege: Systemrelevant – und nun? Theorie und Praxis im Dialog, Wiesbaden 2023
Und dann was für die Ohren:
➔ SWR: Pflegeheime in der Pandemie – Isolation und Einsamkeit (01.02.2023)
Menschen in Altenheimen sollen vor Corona geschützt werden, doch das hat teils gravierende Folgen: Einsamkeit und Depression, körperlicher Abbau. Vielen fehlt die soziale Teilhabe. Eines scheint klar: Pflegebedürftige sollen nicht mehr pauschal von der Außenwelt und ihren Angehörigen isoliert werden.
(27.04.2023) Die Corona-Jahre haben Auswirkungen auch auf den Krankenstand der in der Pflege Beschäftigten. Hierzu ein neuer Beitrag von mir:
➔ Stefan Sell (2023): Kranke Pflege. Anstieg um mehr als 44 Prozent in elf Jahren beim Krankenstand in den Pflegeberufen, in: Aktuelle Sozialpolitik, 26.04.2023
Und auch wenn Ihr Thema die Pflegeheime sind, sollten wir nicht vergessen, dass die meisten Pflegebedürftigen nicht stationär versorgt werden, sondern 80 Prozent leben zu Hause und viele nutzen ambulante Pflegedienste. Wie ist es den dort Beschäftigten ergangen? Dazu dieser Fachaufsatz – möglicherweise finden Sie ja bedeutsame Parallelen wie auch Unterschiede zu dem, was in den Heimen abgelaufen ist:
➔ Benedikt Preuß et al. (2023): Ambulante Pflege in den ersten beiden Wellen der COVID-19-Pandemie: Herausforderungen für Personal und Pflegebedürftige, in Bundesgesundheitsblatt, Heft 3/2023
(25.04.2023) Hier eine weitere Materiallieferung zu Ihrem Thema – es handelt sich um Fachbeiträge, die vor allem die Auswirkungen auf die Bewohner/innen von Pflegeheimen in den Blick nehmen:
➔ P. Benzinger et al. (2021): Psychosoziale Auswirkungen der Pandemie auf Pflegekräfte und Bewohner von Pflegeheimen sowie deren Angehörige – Ein systematisches Review, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Nr. 2/2021*
➔ Magdalena Flatscher-Thöni et al. (2022): Covid-19 Schutzmaßnahmen in Alten- und Pflegeheimen: zwischen Autonomie und Fürsorge – Ergebnisse einer Interviewstudie, in: Ethik in der Medizin, Nr. 2/2022*
➔ Dunja Said et al. (2023): Alten- und Pflegeheime – die COVID-19-Pandemie als Mahnung: Infektionshygienische Maßnahmen und Einflussfaktoren auf die Gesundheit der Bewohnenden, in: Bundesgesundheitsblatt, Nr. 3/2023*
*) Sie finden alle drei Aufsätze im Materialordner auf der Olat-Seite.
Während der Pandemie und der vielen extrem einschränkenden Maßnahmen gerade in den Pflegeheimen haben sich immer wieder bestimmte Organisationen kritisch zu Wort gemeldet, die sich als Interessenvertreter der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen verstehen. Dazu zwei Beispiele:
➔ „BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen„. In der BAGSO sind rund 120 Vereine und Verbände der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen, die von älteren Menschen getragen werden oder die sich für die Belange Älterer engagieren. Die haben sich schon im ersten Corona-Jahr kritisch zu Wort gemeldet:
➔ Soziale Isolation von Menschen in Pflegeheimen beenden! Dringende Empfehlungen der BAGSO an die Politik, April 2020
➔ Besuche in Pflegeheimen: Einrichtungen brauchen klare Vorgaben und mehr Unterstützung, Mai 2020
➔ Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen
in Alten- und Pflegeheimen aus Anlass der COVID-19-Pandemie, November 2020: »Die Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Pflegeheimen im Rahmen der Corona-Pandemie verstoßen in weiten Teilen gegen das Grundgesetz. Das ist das Ergebnis eines Rechtsgutachtens, das der Mainzer Verfassungsrechtler Prof. Dr. Friedhelm Hufen im Auftrag der BAGSO erstellt hat. Dem Gutachten zufolge müssen die negativen Auswirkungen der Maßnahmen auf die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung viel stärker in den Blick genommen werden. Das Leiden von Demenzkranken unter einer für sie nicht begreifbaren Isolation sei dabei besonders zu berücksichtigen. Eine niemals zu rechtfertigende Verletzung der Menschenwürde liege in jedem Fall vor, wo Menschen aufgrund von Besuchsverboten einsam sterben müssen.«
➔ Soziale Teilhabe von Menschen in Alten- und Pflegeheimen auch unter Corona-Bedingungen sicherstellen, Dezember 2020
➔ BIVA-Pflegeschutzbund. »Der BIVA-Pflegeschutzbund setzt sich seit 1974 bundesweit für die Rechte und Interessen von Menschen ein, die Hilfe oder Pflege benötigen und daher in betreuten Wohnformen leben. Er ist damit die einzige bundesweite Interessenvertretung für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen und für von Pflege Betroffene. Das schließt sowohl alle Menschen ein, die im Alter und bei Behinderung selbst Wohn- und Pflegeangebote in Anspruch nehmen, als auch deren Angehörige, die sich in der schwierigen Situation von Pflege und Betreuung befinden. Die BIVA betreibt selbst keine Einrichtungen oder Pflegedienste und steht somit konsequent auf Seiten der Betroffenen und ihrer Angehörigen.«
Die BIVA hat sich bis an den aktuellen Rand immer wieder kritisch vor allem zu dem Thema Besuchseinschränkungen in Pflegeheimen zu Wort gemeldet, so zuletzt am 12. April 2023 vor dem Hintergrund, dass die spezifischen Corona-Regelungen der Bundesländer sind spätestens zum 07. April 2023 sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene ausgelaufen sind – allerdings: einzelne Regelungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), die im Zuge der Corona-Pandemie eingeführt wurden, gelten aber weiterhin.
➔ Eine Übersicht über deren Verlautbarungen zu Ihrem Thema finden Sie auf dieser Seite: Corona im Pflegeheim.
(18.04.2023) Sie müssen sich mit einem abgrundtiefen Thema beschäftigen. Auch wenn es noch gar nicht so lange her ist – viele haben die Bilder schon wieder verdrängt, als am Anfang der Corona-Pandemie in zahlreichen Pflegeheimen das Virus gewütet hat und viele Tote zu beklagen waren.
Bereits im März 2020 habe ich dazu in meinem Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ das hier veröffentlicht:
➔ Stefan Sell (2020): Aus den Untiefen der Verletzlichsten und zugleich weitgehend Schutzlos-Gelassenen: Pflegeheime und ambulante Pflegedienste inmitten der Coronavirus-Krise, 29.03.2020
Und dann dieser Beitrag:
➔ Stefan Sell (2020): Der Tod und die Pflegeheime in Zeiten der Coronavirus-Pandemie, 07.04.2020
Und dann im Herbst des ersten Corona-Jahres:
➔ Stefan Sell (2020): Ein albtraumhaftes Dilemma in Zeiten von Corona: Menschen in Pflegeheimen, 02.09.2020
Zum Thema empfehle ich auch den neuen Pflege-Report der Barmer-Krankenkasse:
➔ Heinz Rothgang und Rolf Müller (2022): BARMER Pflegereport 2022. Stationäre Versorgung und COVID-19. Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse – Band 38, Berlin: BARMER, November 2022