Wir hatten in der vergangenen Veranstaltung darüber gesprochen, dass die Wahlumfragen und vor allem die Prognose am Wahlabend um 18 Uhr (die auf Wahlnachbefragungen in ausgewählten Wahlbezirken basiert) ziemlich nah dran waren am Endergebnis. Angesichts der Stichproben(größen), mit denen da gearbeitet wird, eine für den einen oder anderen überraschende Erkenntnis.
Aber rückblickend wird immer wieder auch die Kritik vorgetragen, dass das Endergebnis teilweise deutlich abweicht von dem, was vorher vorhergesagt wurde. Und manchmal machen auch kleine Abweichungen politischen Stress hoch zwei. Dazu ein Beispiel aus der Vergangenheit.
Beamen wir uns gedanklich zurück in den Herbst 2021. Die letzten Bundestagswahlen. Zuerst die positiven Nachrichten aus Sicht der Wahlforschung: »Oft stand die Demoskopie nach Wahlen in der Kritik. Bei der Bundestagswahl liegen die tatsächlichen Ergebnisse aber nahe an den Werten aus Umfragen«, so Patrick Gensing in seinem Beitrag Wie nah waren die Umfragen am Ergebnis?. Dem kann man entnehmen:
»Umfragen sind keine Prognosen – sondern jeweils aktuelle Stimmungsbilder: Das betonen die Institute zur Meinungsforschung immer wieder. Doch diese Stimmungsbilder vor der Bundestagswahl lagen bemerkenswert nahe an dem tatsächlichen Ergebnis. So hatten die verschiedenen Institute einen knappen Vorsprung für die SPD vor der Union gemessen, der kurz vor dem Wahltag kleiner geworden sei. Zudem lagen die Werte für AfD, FDP und die Grünen nahe bei den Endergebnissen. Nur der Absturz der Linkspartei war noch drastischer, als es in den Umfragen erschien.«
Bei der Suche nach Erklärungen für das gute Abschneiden der Umfrageinstitute stoßen wir auch wieder auf die Briefwähler, die wir ja schon etwas genauer unter die Lupe genommen haben:
Der Sozialwissenschaftler Rüdiger Schmitt-Beck von der Universität Mannheim wird mit den Worten zitiert: „Die Institute waren dieses Mal bemerkenswert gut.“ Thomas Wind vom Institut für Zielgruppenkommunikation zeigte sich erstaunt darüber, wie nahe die Umfragen an den Ergebnissen lagen. Und die möglichen Gründe dafür?
»Die geringeren Abweichungen könnten seiner Einschätzung nach unter anderem daran liegen, dass in den Umfragen auch viele Briefwählerinnen und Briefwähler erfasst wurden, die dann nicht ihre Wahlabsicht bezogen auf die hypothetische Sonntagsfrage äußerten, sondern ihre tatsächliche Wahlentscheidung bekanntgaben.«
➔ »Genau um diese Frage hatte es einen juristischen Streit zwischen Bundeswahlleiter Georg Thiel und dem Meinungsforschungsinstitut Forsa gegeben. Der Bundeswahlleiter argumentierte, die Veröffentlichung von Umfragen vor Ablauf der Wahlzeit stelle einen Verstoß gegen das Bundeswahlgesetz dar, „wenn Briefwählerinnen und Briefwähler nicht nur nach ihrer Wahlabsicht, sondern nach ihrer Wahlentscheidung gefragt werden“. Ein Gericht entschied aber zu Gunsten von Forsa. Ein Veröffentlichungsverbot beeinträchtige die Freiheit der Berichterstattung. Die Veröffentlichung von Wählerumfragen gehöre zum politischen und demokratischen Prozess.«
»Insgesamt sei die Situation für die Institute aber komplexer geworden, meint Forscher Wind, da jüngere Menschen kaum noch über Festnetztelefon zu erreichen seien und Online-Umfragen verschiedene Schwächen haben könnten. Daher versuchten verschiedene Institute nun, einen „Mixed Mode“ zu entwickeln. Dabei sei aber immer entscheidend, eine repräsentative Basis zu finden.«
Natürlich wird sie immer wieder gestellt, die Frage: Beeinflussen Umfragen die Ergebnisse?
»Zu der Frage, inwieweit Umfragen das tatsächliche Ergebnis beeinflussen, erklärt Forscher Wind, es sei bisher nicht gelungen, die Wirkung von Umfragen isoliert zu analysieren: „Der Austausch im jeweiligen sozialen Umfeld ist vermutlich einflussreicher auf den Wahlentscheidungsprozess als die Rezeption von Umfrageergebnissen.“
Es seien es vor allem Männer im Alter von über 50 Jahren und mit höherer Schulbildung , die sich überproportional oft für Ergebnisse der Demoskopie interessierten, sagt Wind. Qualitative Forschungen hätten zudem gezeigt, dass viele Menschen lediglich Überschriften zu Umfragen wahrnehmen – und sich weniger ausführlich mit Diagrammen und Details beschäftigen. Entscheidender sei daher die Schwerpunktsetzung durch die Medien bei den Meldungen zu den jeweiligen Umfragen.«
Bei der immer wieder vorgetragenen Kritik an einem (angeblichen) Versagen der Demoskopie wird gerne auf bedeutsame Wahlereignisse im Ausland hingewiesen, deren Ausgang nicht vorhergesagt wurden. Man denke hier an das Referendum 2016 in Großbritannien über einen Brexit – der letztendliche Sieg der Ausstiegsbefürworter wurde vor der Abstimmung nicht gesehen.
➔ Das Ergebnis der Abstimmung am 23. Juni 2016 war äußerst knapp: Für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union („Brexit“) stimmten 51,9 % der Wähler (etwa 17,4 Millionen bzw. 37,4 % der wahlberechtigten Bürger); für einen Verbleib in der Europäischen Union stimmten 48,1 % (etwa 16,1 Millionen bzw. 34,7 % der wahlberechtigten Bürger). Die Wahlbeteiligung lag bei 72,2 %.
Wer sich weiterführend für das Thema „Brexit“ interessiert, dem sei dieses Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung empfohlen: Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU.
Oder die Wahl von Donald Trump im November 2016
Insbesondere nach der US-Wahl 2016 hatte es breite Kritik an der Meinungsforschung gegeben, da diese nicht den Wahlsieg von Donald Trump vorhergesagt habe.
Aber: Tatsächlich stimmten viele Umfragen aber mit dem späteren Ergebnis überein: So holte Hillary Clinton damals auf nationaler Ebene die meisten Stimmen, so wie es Umfragen zuvor gemessen hatten. Aber die Wahl gewonnen im Sinne der Mehrheit der Stimmen im Wahlgremium, das den Präsidenten in den USA wählt (deren Mitglieder von den einzelnen Bundesstaaten bestückt werden – und alle Stimmen eines Bundesstaates gehen an den Kandidaten, der die Mehrheit bekommen hat, selbst wenn die äußerst knapp ausfallen sollte).
➔ Vgl. dazu den Beitrag National Polling Accurately Nails Popular Vote von Frank Newport von Gallup-Institut, der am 23.09.2016 veröffentlicht wurde: »This was a complex election since Hillary Clinton won the popular vote and Donald Trump won the Electoral College. In terms of forecasting, being „right“ means two different things, depending on whether you were estimating the former or the latter.« Gerade bei Kopf-an-Kopf-Rennen in einzelnen Bundesstaaten ist es besonders schwierig, wirklich repräsentative Umfragen zu erheben, da es teilweise extrem große Unterschiede innerhalb der Staaten gibt – beispielsweise zwischen Stadt und Land.
Aber auch wenn man nur knapp daneben liegt, kann das große Wellen schlagen: Der Wahlabend der Bundestagswahl 2021
Wir haben das diese Tage erlebt, als am Wahlabend der Europawahl um 18 Uhr im ARD- und gleichzeitig im ZDF-Fernsehen die Prognose des Wahlergebnisses präsentiert wurde. Die im ARD-Fernsehen verbreitete haben wir uns dann ja auch genauer angeschaut.
So war das auch am Abend der Bundestagswahl im September 2021. Da gab es einen an sich kleinen Unterschied zwischen den Prognosewerten von ARD und ZDF – mit Folgen:
»Am Wahlabend hatte das ZDF die präziseren Zahlen. Die ARD sah lange einen Gleichstand zwischen den beiden größten Parteien – und eröffnete damit Unionspolitikern ungeahnte Möglichkeiten«, berichtet Peter Fahrenholz unter der Überschrift Wie die ARD-Prognose die Diskussion in eine falsche Richtung lenkte. Was war passiert?
Auch hier sind sie wieder im Spiel, die Briefwähler – die werden gleich am Anfang des Beitrags erwähnt:
»Die Demoskopen hatten es bei dieser Wahl noch schwerer als sonst. Das lag an der hohen Zahl der Briefwähler. Denn je höher deren Anteil ist, desto weniger belastbar ist das Ergebnis der sogenannten Prognose, die ARD und ZDF immer Punkt 18 Uhr veröffentlichen. Die Prognose ist eben keine Hochrechnung, die auf ausgezählten Stimmen basiert, sondern lediglich eine Wahlnachfrage. Gefragt werden können aber logischerweise nur Wählerinnen und Wähler, die im Wahllokal abstimmen, nicht aber die Briefwähler. Die Demoskopen versuchen, deren Stimmverhalten anhand früherer Erfahrungen und den Erkenntnissen aus Umfragen vor der Wahl in die Prognose einfließen zu lassen.«
Was war nun am Wahlabend passiert?
➔ Am 26. September 2021 wurde nicht nur der Bundestag neu gewählt, sondern zeitgleich fand die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin statt, also dem „Landtag“ des Stadtstaates Berlin.
»An diesem Wahlabend wurde besonders deutlich, wie schon geringe Unterschiede die Diskussion in eine falsche Richtung lenken können. Zwar lagen beide Umfrageinstitute, Infratest Dimap für die ARD und die Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF, innerhalb der Fehlermarge, die solche Prognosen immer haben. Aber das ZDF lag schon mit der Prognose deutlich näher am tatsächlichen Endergebnis. Die Forschungsgruppe Wahlen meldete schon mit der Prognose einen zwar knappen Sieg der SPD, aber eben einen Sieg. Infratest Dimap sah dagegen bis zur ersten Hochrechnung Union und SPD gleichauf.«
»Damit vermittelte die ARD-Prognose das Bild eines Kopf-an-Kopf-Rennens und gab den Unionspolitikern die Möglichkeit, daraus einen Regierungsauftrag abzuleiten und vom eigenen Wahldebakel abzulenken. Auch bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus lag Infratest Dimap daneben. Dort sah die ARD lange die Grünen vor der SPD, während das ZDF von der ersten Prognose an die SPD vorn sah – und so kam es dann auch.«