»Die Briefwahl gibt es seit 1957. Damals wurde sie eingeführt, um die „Allgemeinheit der Wahl“, einen elementaren Wahlrechtsgrundsatz der deutschen Demokratie sicherzustellen. Er besagt, dass möglichst jeder Wahlberechtigte die Möglichkeit haben soll, an der Wahl teilzunehmen, ohne dass ihn bestimmte Gründe wie zum Beispiel sein Alter, sein Aufenthaltsort am Wahltag (Stichwort „Urlaub“) oder seine Gesundheit daran hindern könnten. Jede Stimme ist wertvoll.«
So beginnt der Beitrag Die Risiken der Briefwahl von Matthias Vorndran, der bereits 2017 im Vorfeld der damaligen Bundestagswahl veröffentlicht wurde (bei der dann 28,6 Prozent Briefwähler gezählt wurden).
»Ein halbes Jahrhundert lang konnte man seine Stimme nur dann per Brief abgeben, wenn man dies begründen und die Gründe auch glaubhaft machen konnte. Diese Regelung schaffte der Gesetzgeber 2008 ersatzlos ab.«
Teilweise erhebliche Kritik von Verfassungsrechtlern
1. Gefährdung des Wahlgeheimnisses
Bei der Briefwahl ist nicht nachvollziehbar, ob der Wahlberechtigte seine Stimme unbeeinflusst, unbeobachtet und höchstpersönlich abgegeben hat. Die Gefahr besteht, dass Wähler eingeschüchtert oder bestochen werden. Auch die Beeinflussung behinderter oder dementer Menschen ist theoretisch möglich, ebenso wie die Weitergabe bereits unterschriebener, aber noch nicht ausgefüllter Unterlagen.
Ein entsprechender Vermerk findet sich auch im Bericht der OSZE/ODIHR-Wahlbewertungsmission zur Bundestagswahl 2009. Nach Einschätzung der Wahlbeobachter „sollte überlegt werden, die bestehenden Sicherungsmechanismen gegen den potenziellen Missbrauch des Briefwahlsystems auf ihre Eignung zu überprüfen“.
2. Beeinflussung des Meinungsbildungsprozesses
Wer sich bereits Wochen vor dem eigentlichen Wahltermin festlegt, bezieht möglicherweise Ereignisse, die kurz vor der Wahl stattfinden, nicht in seine Wahlentscheidung ein.
Die Gleichheit der Wahl, so der Staatsrechtler Alexander Thiele von der Uni Göttingen, verlange aber auch, dass die Wahlberechtigten zumindest theoretisch über die gleichen Kenntnisse verfügen, die für die Wahlentscheidung von Relevanz sein können. Insofern sei die Gleichzeitigkeit der Abstimmung ein wichtiges Element einer jeden Mehrheitsentscheidung.
Thiele erklärt: „Haben einige Abstimmende aufgrund einer späteren Stimmabgabe ‚Sonderwissen‘, kann das die Legitimität einer Mehrheitsentscheidung insofern ernsthaft gefährden, weil auch früher Abstimmende mit diesem Wissen möglicherweise anders abgestimmt hätten und das Ergebnis der Wahl dann unter Umständen nicht die tatsächliche Mehrheitsmeinung wiederspiegelt.“
Das Bundesverfassungsgericht hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach mit dem Thema Briefwahl befasst und sie trotz der Risiken für verfassungskonform erklärt. In seinen Entscheidungen hat es der „Allgemeinheit der Wahl“, also einer möglichst hohen Wahlbeteiligung, einen größeren Stellenwert beigemessen als einer drohenden Gefährdung des Wahlgeheimnisses.
Staatsrechtler Thiele sieht in der Ausdehnung der Wahlzeit auf mehrere Wochen aber ein falsches verfassungspolitisches Signal:
„Der Wahltag ist der für eine Demokratie bedeutendste Tag und insoweit kann und muss erwartet werden, dass sich die Bürgerinnen und Bürger – soweit möglich – auch die Zeit nehmen. Stattdessen lieber zu ‚brunchen‘ und deshalb die Briefwahl zu nutzen, ist letztlich kein akzeptables Verhalten, wenn es darum geht, die Funktionsfähigkeit der Demokratie zu erhalten.“
Thiele hält es deshalb für sinnvoll, die „grundlose“ Briefwahl wieder abzuschaffen und zur alten Regelung zurückzukehren. Damit die Wahlbeteiligung nicht leidet, regt er andere Maßnahmen wie zum Beispiel die Einführung eine Wahlpflicht an, wie sie auch in anderen Demokratien besteht.
Um die Bedeutung des Wahltags zu verdeutlichen, sollte dieser nach Thieles Vorstellungen auf einen Mittwoch verlegt werden. Der könne aber allgemeiner gesetzlicher Feiertag werden, verbunden mit offiziellen Feierlichkeiten im Sinne eines „Wahlfeiertags“.
Zur aktuellen Diskussion über die Briefwahl im Umfeld der Europawahl 2024
Die Zahl der Briefwähler wird immer größer, besonders in Rheinland-Pfalz. Das habe vielfältige Auswirkungen, sagt die Demokratieforscherin Theres Matthieß. Es sei aber zunächst ein gutes Zeichen, berichtet der SWR in seinem Beitrag Immer mehr Briefwähler – und was das für Auswirkungen hat von Matthias Weber, der am 14. Mai 2024 veröffentlicht wurde.
Auch hier wird darauf hingewiesen, dass die Briefwahl eigentlich als Ausnahme definiert sei. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Zahl der Briefwähler aber deutlich erhöht.
Die Briefwahl gibt es in Deutschland seit 1957. Sie wurde eingeführt, um die „Allgemeinheit der Wahl“ sicherzustellen, einen der fünf elementaren Wahlrechtsgrundsätze der deutschen Demokratie: Die Wahl muss laut Artikel 38 des Grundgesetzes allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim erfolgen.
Die fünf Wahlrechtsgrundsätze
Allgemein ist eine Wahl, weil alle Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland ein Stimmrecht besitzen – unabhängig von ihrem Geschlecht, Einkommen, Konfession, Beruf oder politischen Überzeugung. Das Wahlrecht wird bei Vollendung des 18. Lebensjahres erlangt.
Unmittelbar ist eine Wahl, da die Wählerinnen und Wähler die Abgeordneten direkt (unmittelbar) wählen.
Frei ist eine Wahl, wenn die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Wahlentscheidung nicht beeinflusst oder unter Druck gesetzt werden. Der Grundsatz der Freiheit der Wahl gewährleistet, dass ein Wähler seinen wirklichen Willen unverfälscht zum Ausdruck bringen kann und sein Wahlrecht ohne Zwang oder sonstige unzulässige Beeinflussung von außen ausübt. Dazu gehört auch, dass es keinen Wahlzwang gibt und jeder Bürger frei darin ist, an einer Wahl teilzunehmen.
Gleich ist eine Wahl, weil jede Stimme gleich viel zählt, und jede Art von Gewichtung unzulässig ist.
Geheim ist eine Wahl, wenn sichergestellt wird, dass ein Wähler oder eine Wählerin den Stimmzettel unbeobachtet ankreuzen kann. Eine Stimmabgabe erfolgt in Wahlkabinen. Diese sind von außen nicht einsehbar. So kann niemand erkennen, welche Wahlentscheidung der Wähler oder die Wählerin getroffen hat.
Artikel 38 GG
Allgemeinheit besagt, dass möglichst jede und jeder Wahlberechtigte die Möglichkeit haben soll, an der Wahl teilzunehmen – auch die, die aus verschiedenen Gründen nicht am Wahltag das Wahllokal aufsuchen können – etwa weil sie zu alt, gesundheitlich angeschlagen oder im Urlaub sind.
Ein halbes Jahrhundert lang konnte die Stimme nur dann per Brief abgeben werden, wenn dies glaubhaft begründet werden konnte. Diese Regelung schaffte der Gesetzgeber 2008 ersatzlos ab. Der Anteil der Briefwähler ist seitdem weiter gestiegen.
Bei der Bundestagswahl 2021 erreichte er mit 47,3 Prozent den bisher höchsten Wert in Deutschland. „Mit Sicherheit ist die Corona-Pandemie da ein Treiber gewesen“, sagt die Demokratieforscherin Theres Matthieß von der Uni Göttingen. Aber auch ohne Corona hätte es wahrscheinlich einen Anstieg gegeben. Aber sicherlich nicht in der Größenordnung.
In Rheinland-Pfalz war der Anteil der Briefwähler in den vergangenen Jahren besonders hoch – bei der letzten Landtags- und der letzten Bundestagswahl lag er bei mehr als 60 Prozent. Auch bei der Europawahl steigen die Werte seit Jahrzehnten kontinuierlich.
Weiterhin verfassungsrechtliche Bedenken
Viele Juristen haben weiterhin verfassungsrechtliche Bedenken gegen den großen Anteil der Briefwähler. Die Freiheit der Wahl ebenso wie ihre Geheimheit und ihre Öffentlichkeit stünden in einem Spannungsverhältnis zur Briefwahl, so der Verfassungsrechtler Markus Ogorek von der Universität Köln im Jahr 2021. Denn am Küchentisch könne keiner kontrollieren, ob wirklich geheim und frei abgestimmt werde.
Die Demokratieforscherin Theres Matthieß von der Uni Göttingen wird mit den Worten zitiert: Sie könne diese Bedenken durchaus nachvollziehen. Bisher seien aber nur Einzelfälle bekannt, wo es tatsächlich zu einem Wahlbetrug bei der Briefwahl gekommen sei. „Und ob das dann so einen großen Einfluss auf den Wahlausgang hat, wage ich zu bezweifeln.“
➔ Diese Risiken haben in den vergangenen Jahrzehnten auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigt, das sich mehrfach mit dem Thema Briefwahl befasste und sie trotz der Risiken für verfassungskonform erklärte. In seinen Entscheidungen hat es dabei der „Allgemeinheit der Wahl“ einen größeren Stellenwert beigemessen als einer drohenden Gefährdung des Wahlgeheimnisses.
Sonderfall Corona-Pandemie 2021: Das Beispiel Rheinland-Pfalz
Im Vorfeld der rheinland-pfälzischen Landtagswahl 2021 hatten mehrere Kreiswahlleitungen und Bürgermeister dafür plädiert, die Abstimmung wegen der Corona-Pandemie ausschließlich per Briefwahl durchzuführen
Landeswahlleiter Marcel Hürter wies das aber zurück. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben komme die ausschließliche Briefwahl nur als Ultima Ratio (‚letztmöglicher Weg‘) in Betracht. Eine ausschließliche Briefwahl könne nur angeordnet werden, wenn das öffentliche Leben insgesamt regional weitgehend zum Erliegen gekommen sei.
Bei der Prüfung von entsprechenden Anträgen sei eine Gesamtabwägung zu treffen, erklärte Hürter. Dabei müsse auch die verfassungsrechtliche Bedeutung der Öffentlichkeit der Wahl berücksichtigt werden, die so nur im Wahllokal sichergestellt werden könne.
„Mehr ungültige Stimmen durch Briefwahl“(?)
Ein weiteres Problem sieht Theres Matthieß von der Uni Göttingen auf der rein praktischen Ebene. Die Stimmabgabe bei der Briefwahl sei komplizierter und dadurch gebe es mehr ungültige Stimmen. Das wird aber nicht weiter erläutert, sondern bleibt als Behauptung im Raum stehen.
Schließlich verweist Matthieß darauf, dass die Möglichkeit der Briefwahl eine ganz andere Form von Wahlkampf nötig mache. „Der Wahlkampf verschiebt sich natürlich nach vorne damit.“ Die Parteien müssten sich früher bemerkbar machen, müssten früher auf der Straße sein.