Ich habe Ihnen heute einen Exkurs geliefert zu der Frage, ob es in den beiden ersten Corona-Jahren eine „Übersterblichkeit“ gegeben hat. Es sollte deutlich geworden sein, wie komplex eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Fragestellung ist. Meine Folien liegen Ihnen bereits im Materialordner vor. Am Ende der Foliensammlung verweise ich auf einen neuen Aufsatz aus der Zeitschrift „Wirtschaft und Statistik“, den ich Ihnen hier verlinke:
➔ Göran Kauermann und Giacomo De Nicola (2023): Übersterblichkeit durch Corona?, in: Wirtschaft und Statistik, Heft 1/2023, S. 80-85
In diesem Beitrag wurde im Kontext der Diskussion über die durch COVID-19 verursachten Todesfälle die Notwendigkeit einer Altersadjustierung deutlich herausgearbeitet. »Um Übersterblichkeiten zu berechnen ist es notwendig, eine mittlere Todeszahl zu berechnen, also eine erwartete Anzahl von Todesfällen. Wird diese überschritten, spricht man von Übersterblichkeit, die dann absolut oder auch relativ angegeben werden kann. Die methodische Herausforderung liegt dabei auf der Berechnung der erwarteten Anzahl von Todesfällen. Der Ad-hoc-Ansatz ist, einfach den Mittelwert der Todeszahlen aus vorherigen Jahren als erwartete Todeszahl heranzuziehen, etwa den Mittelwert der letzten vier Jahre. Das ist plausibel, solange sich die Lebenserwartung nicht substanziell ändert und solange die Altersstruktur der Bevölkerung annähernd gleichbleibt. Auch wenn anzunehmen ist, dass die erste Bedingung noch zutrifft, so hat sich in Deutschland die Altersstruktur gerade der Hochbetagten in den letzten Jahren doch erheblich verändert. Das bedeutet aber, dass zur Berechnung der erwarteten Todeszahlen die Altersstruktur der Bevölkerung herangezogen werden muss.«
Das zentrale Ergebnis der Berechnungen der beiden Autoren:
»Dabei wurde eine altersadjustierte Schätzung der jährlichen Übersterblichkeit basierend auf aktuellen Sterbetafeln vorgeschlagen und gezeigt, dass sich der Anstieg der Sterbezahlen in den Jahren 2020 und 2021 größtenteils durch die alternde Bevölkerung erklären lässt.«
Also alles gut?
Anfang Januar 2021 wurde dieses Paper veröffentlicht:
➔ Joachim Ragnitz (2021): Hat die Corona-Pandemie zu einer Übersterblichkeit in Deutschland geführt?, Dresden: ifo Institut Niederlassung Dresden, 05.01.2021
Dort taucht dann eine Abbildung auf, die Sie heute aus meinen Beiträgen schon kennen – die Zahl der „Corona-Todesfälle“, wie sie vom RKI geliefert wurden:

Ragnitz (2021: 2) führt dazu ergänzend aus: »Entsprechend den Erhebungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) ist auch die Zahl der Todesfälle in der zweiten Welle massiv angestiegen und liegt am aktuellen Rand (KW50) etwa doppelt so hoch wie auf dem Höhepunkt der ersten Welle. Eine Auswertung der Einzeldaten des RKI (nach Meldedatum) zeigt, dass die erfassten Todesfälle in Zusammenhang mit einer Covid-Infektion sich auf die höheren Altersgruppen konzentrieren. In KW50 entfielen 27,9% auf die Gruppe der 60-bis-79- Jährigen und 69,4% auf die Gruppe der Personen im Alter von 80 Jahren und mehr. Über den Gesamtzeitraum (KW11 bis KW50) betrachtet lag das Risiko, nach einer Corona-Infektion zu sterben, bei den Über-80-jährigen bei mehr als 21%, bei den 60- bis-79-Jährigen immerhin noch bei 5,3%.«
Und weiter: »Die hohe Übersterblichkeit in der Definition des Statistischen Bundesamtes in der zweiten Welle der Corona-Pandemie resultiert allein aus einer erhöhten Zahl an Todesfällen in der Altersgruppe 80+ (in der ersten Welle war außerdem auch in der Gruppe der 60-bis-79-Jährigen eine leichte Übersterblichkeit zu beobachten). Der Verdacht liegt nahe, dass dies auch mit der hohen Zahl der Infektionen in dieser Altersgruppe zu tun hat.«
Allerdings hat auch Ragnitz die von uns diskutierten Probleme der Vergleichbarkeit von Daten gesehen, die wir rund um die „altersstandardisierten Sterbequoten“ geführt haben:
»Da die Zahl (und der Anteil) der Personen in den „hohen“ Altersgruppen wegen des demographischen Wandels zunimmt, sollte schon allein aus diesem Grund wegen der fortschreitenden Alterung im Zeitablauf ein Anstieg der Todesfälle gegenüber dem Referenzzeitraum festzustellen sein. Zudem ist die Bevölkerungszahl insgesamt gegenüber dem Referenzzeitraum um mehr als 500 000 Personen gestiegen.«
Und was schlägt er vor?
»Sinnvoller als der Vergleich von Absolutzahlen von Todesfällen erscheint es deshalb, die „Sterbewahrscheinlichkeit“ in den verschiedenen Altersgruppen zu betrachten. Hierzu werden die Sterbefälle nach Altersgruppen (bzw. insgesamt) je 100.000 Personen pro Woche im Jahresdurchschnitt 2016-2019 (Referenzzeitraum) bzw. im Jahr 2020 (Untersuchungszeitraum) ermittelt.« (Ragnitz 2021: 6). Übersterblichkeit lässt sich dann messen durch Vergleich der bisher festgestellten wöchentlichen Sterbehäufigkeit 2020 mit den Sterbehäufigkeiten in der jeweiligen Kalenderwoche im Durchschnitt der Jahre 2016-2019.
Sein Ergebnis: »Eine erhöhte Sterblichkeit (gemessen am Durchschnitt der Sterbewahrscheinlichkeiten in den Jahren 2016-2019) ist in den beiden Coronawellen nur in der höchsten Altersgruppe (80+) auszumachen … Die in der Gesamtzahl höhere Sterblichkeit während des bisherigen Verlaufs der Corona-Pandemie (KW11-KW48) ist zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf den erwähnten Struktureffekt der Alterung zurückzuführen, denn der prozentuale Bevölkerungsanteil der Altersgruppe von 80 Jahren und mehr (die die höchste Sterblichkeit aufweist) ist zwischen 2016 und 2020 von 5,9% auf 7,0% gestiegen.«
Eine Aktualisierung und Erweiterung seines Papers findet man dann in dieser Veröffentlichung:
➔ Joachim Ragnitz (2022): Übersterblichkeit während der Corona-Pandemie, in: ifo Dresden berichtet, Heft 1/2022, S. 29-35
Sein Fazit in diesem Beitrag geht so:
»Den zweiten Jahrestag des Ausbruchs der Corona-Pandemie nimmt das ifo Institut zum Anlass, erneut einen Blick auf die Übersterblichkeit in Deutschland zu werfen. Es zeigt sich deutlich, dass in den bisherigen vier Wellen der Pandemie weitaus mehr Menschen gestorben sind als es unter normalen Umständen zu erwarten gewesen wäre – aber wiederum auch weniger, als es die gängige Betrachtung des Statistischen Bundesamtes nahelegt, die die Folgen der Alterung in Deutschland nicht hinreichend berücksichtigt. Insgesamt waren nach den hier vorgelegten Berechnungen seit Ausbruch der Pandemie zusammengenommen rund 96.200 zusätzliche Todesfälle zu verzeichnen. Dies sind rund 15% weniger als die Zahl der vom RKI in diesem Zeitraum insgesamt registrierten Todesfälle im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion.«
Und ein Jahr später, im Januar 2023, gab es dann diese Meldung aus dem ifo-Institut, bei der die Berechnung hinsichtlich einer „Übersterblichkeit“ bis zum Ende des Jahres 2022 fortgeschrieben wurden:
➔ In den Corona-Jahren starben 180.000 Menschen mehr als unter normalen Umständen erwartet (20.01.2023)
»In den Corona-Jahren 2020 bis 2022 sind in Deutschland rund 180.000 Menschen mehr gestorben als zu erwarten gewesen wäre. Das geht aus Berechnungen des ifo Instituts zur Übersterblichkeit hervor. „Besonders schlecht geschützt waren die alten Menschen“, sagt Joachim Ragnitz, stellvertretender Leiter der ifo Niederlassung Dresden. In der Altersgruppe 80 plus starben allein 116.000 Menschen mehr als üblich gewesen wäre, in der Altersgruppe 60 bis 79 waren es 51.000. In der großen Altersgruppe 30 bis 59 Jahre gab es dagegen nur es 12.000 zusätzliche Todesfälle, bei den 0 bis 29-jährigen sogar nur rund 900.«
»Je 100.000 Einwohner lag die Übersterblichkeit bei 640 in der Altersgruppe 80+, in der darunter liegenden Altersgruppe 60 bis 79 Jahre bei 92. In den beiden jüngeren Altersgruppen war die relative Übersterblichkeit viel geringer, nämlich 12 und 1.«
Das Jahr 2022 wird besonders hervorgehoben:
„Überraschend ist, dass sich die Übersterblichkeit im Jahre 2022 noch einmal beschleunigt hat“, sagt Ragnitz. 2020 gab es rund 39.000 zusätzliche Todesfälle, ein Jahr später 68.000, und 2022 waren es sogar fast 74.000. „Die genauen Gründe dafür sind noch ungeklärt. Eine Rolle gespielt haben dürften dabei auch die Hitzewellen im Sommer und die Grippewellen zum Ende des Jahres“, fügt er hinzu.
Das ifo Institut nimmt zur Berechnung der erwarteten Zahl an Todesfällen den Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019 vor der Corona-Zeit und bereinigt diese um Veränderungen der Altersstruktur und die steigende Lebenserwartung. Das Ergebnis:


Und was sagt die WHO?
»Die WHO hat ihre Schätzungen zur Übersterblichkeit der Jahre 2020 und 2021 präzisiert. Für Deutschland kommt sie auf ein niedrigeres Ergebnis«, kann man diesem am 15. Dezember 2022 veröffentlichten Beitrag entnehmen: Weniger Corona-Tote in Deutschland als vermutet. Darin werden wir zuerst einmal mit dieser Botschaft konfrontiert:
»Die Übersterblichkeit weltweit lag nach einer Auswertung in den ersten beiden Jahren der Corona-Pandemie 2020 und 2021 deutlich höher als die offiziell gemeldeten Covid-19-Todeszahlen. Vor allem in Ländern mit mittleren Einkommen war die Diskrepanz groß, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Fachzeitschrift „Nature“ berichtet. Weltweit starben demnach in den beiden Jahren rund 14,83 Millionen Menschen mehr als ohne die Pandemie zu erwarten gewesen wäre. Die WHO hatte im Mai schon einmal von 14,9 Millionen zusätzlichen Todesfällen berichtet. Damals wurde die teils sehr komplexe Methodik kritisiert.«
Und speziell zu Deutschland: »Für Deutschland berechnete das WHO-Datenanalyseteam die ursprüngliche Schätzung neu und kam zu dem Schluss, dass es in den beiden Jahren eine Übersterblichkeit von 122.000 – und nicht 195.000 – gab. Eine Studie der Universität Duisburg-Essen* hatte für 2020 auch die demografische Entwicklung berücksichtigt und kam zu dem Schluss, dass ein Teil der zusätzlichen Todesfälle auf die wachsende Zahl der Über-80-Jährigen zurückzuführen sei.«
*) Dazu dieser Artikel: Analyse: 2020 keine oder nur geringe Übersterblichkeit in Deutschland (21.10.2021): »Laut einer Analyse der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen (UDE) gab es im Gesamtjahr 2020 keine oder nur eine geringe statistische Übersterblichkeit in Deutschland, auch wenn es etwa 34.000 Todesfälle gab, die mit COVID-19 assoziiert werden.« Es wurden mittels zweier verschiedener Rechenmethoden Übersterblichkeitsquoten errechnet: »Beim ersten Rechenmodell auf Basis der wöchentlichen Mortalitätsraten der Jahre 2016 bis 2019 ergab sich für Deutschland eine leichte statistische Untersterblichkeit von 2,4 Prozent. Unter Einbeziehung einer anzunehmenden steigenden Lebenserwartung errechneten die Wissenschaftler eine Übersterblichkeit von 0,9 Prozent … Dass zwar gemäß den Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) im Jahr 2020 etwa 34.000 durch oder mit COVID-19 Verstorbene in Deutschland verzeichnet wurden, man aber keine oder nur eine geringe Übersterblichkeit errechnen konnte, könnte laut UDE mehrere Ursachen haben. So habe es 2019/2020 und 2020/2021 zwei Winter hintereinander gegeben, in denen kaum Menschen an der saisonalen Influenza (Grippe) gestorben sind. Zudem könnten auch indirekte Effekte der bundesweiten Pandemiemaßnahmen eine Rolle spielen – die Zahl der Verkehrstoten ging beispielsweise während des ersten Lockdowns deutlich zurück. Zudem zeigt die Analyse, unabhängig vom Rechenmodell, für die Kalenderwochen ab Anfang November 2020 – und somit für die Zeit der zweiten Coronawelle – deutlich über dem erwartbaren Niveau liegende Sterberaten. In der letzten Jahreswoche betrug die von den Wissenschaftlern errechnete Übersterblichkeit auch ohne Einbeziehung des Lebenserwartungsfaktors 23,8 Prozent.«
Interessant sind die teilweise erhebliche internationalen Unterschiede, von denen die WHo berichtet:
»In ärmeren Ländern ist die Übersterblichkeit nicht so hoch gewesen, weil die Bevölkerung dort in der Regel jünger sei und daher weniger Menschen an Covid-19 starben … Besonders betroffen von hoher Übersterblichkeit seien Länder mit mittleren Einkommen in Südamerika gewesen. Peru habe beispielsweise fast doppelt so viele Todesfälle gehabt wie zu erwarten gewesen wäre. In Mexiko, Bolivien und Ecuador habe die Zahl um 50 Prozent höher gelegen.«
Auch hier taucht sie wieder auf, die Frage, die wir im Seminar angesprochen haben: An, mit, durch oder neben Corona?
»Weltweit betrachtet lag die Übersterblichkeit laut WHO mehr als zweieinhalb mal so hoch wie die gemeldeten Covid-19-Todesfälle allein es hätten vermuten lassen: Ende 2021 zeigte die WHO-Statistik 5,4 Millionen Covid-19-Tote. Die nun veröffentlichte Zahl von 14,83 Millionen zusätzlichen Toten umfasst allerdings auch Todesfälle, bei denen die Todesursache nicht richtig angegeben war, solche von vermutlich infizierten, aber nicht getesteten Patienten sowie Todesfälle von Menschen mit Krankheiten oder Verletzungen, die wegen der Überlastung der Gesundheitssysteme nicht rechtzeitig behandelt werden konnten.«
Enrique Acosta vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) wird allerdings mit dem Kommentar zitiert, »dass die Zahlen mit Vorsicht zu betrachten seien, weil es nur bei 37 Prozent der Länder eine monatliche Statistik mit allen Todesfällen gegeben habe. 43 Prozent der Länder hätten gar keine Zahlen vorlegt. Deshalb mussten die Statistiker Annahmen machen, die nach Einschätzung von Acosta teils problematisch sind.«
»Dass es für viele Länder keine verlässlichen Daten zu Sterbefällen vor und während der Pandemie gibt, sieht auch Christoph Rothe, Statistik-Professor an der Universität Mannheim, als problematisch an. Die WHO habe diese Werte stattdessen mithilfe statistischer Verfahren aus den Daten vergleichbarer Länder mit besserer Informationsbasis geschätzt. Die daraus resultierenden Ergebnisse seien mit einer gewissen Unsicherheit verbunden.«
Es ist also kompliziert(er). Als man denkt oder hofft.