In Deutschland fordern einige die Einsetzung einer Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie, in Frankreich versuchen andere, die Erinnerung zu institutionalisieren

Wir hatten im Seminar an mehreren Stellen schon darüber gesprochen, dass es eigentlich sehr hilfreich wäre, wenn man die Erfahrungen, die wir in den Jahren der Corona-Pandemie gemacht haben, aufarbeitet – vor allem mit Blick auf die Frage, was man lernen kann für ein „nächstes Mal“, wenn wir also möglicherweise erneut mit einer pandemischen Situation konfrontiert werden. Und schon sind wir mittendrin in einem Minenfeld, denn den einen geht es um eine nach vorne gerichtete Aufarbeitung auch der vielleicht aus heutiger Sicht „falschen“ Maßnahmen, die man ergriffen hat. Anderen hingegen geht es um eine „Abrechnung“ mit der Pandemiebekämpfungspolitik, um ein „Vorführen“ derjenigen, die Entscheidungen treffen mussten, sie wollen bestätigt werden in ihrer Ablehnung dessen, was wir in den zurückliegenden Jahren erlebt haben.

Diese Absicht kann man dann in solchen Meldungen wiederfinden: »Auf dem Landesparteitag hat Thüringens AFD-Parteichef Björn Höcke einen Corona-Untersuchungsausschuss angekündigt. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.«

Und wie sieht es in Berlin aus? »Die Corona-Pandemie soll ein Nachspiel haben – nur welches? Im Bundestag gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber. Nur eines ist klar: Einen Untersuchungsausschuss wird es nicht geben«, so Hagen Strauß in seinem Artikel So soll die Corona-Pandemie aufgearbeitet werden, der am 18.04.2023 veröffentlicht wurde.

»Dass Fehler gemacht wurden, weiß inzwischen jeder, das räumt auch der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) heute ein. Und sein Nachfolger Karl Lauterbach (SPD) sagte kürzlich: Deutschland sei insgesamt „vergleichsweise gut“ durch die Pandemie gekommen. Bei den Kontaktreduzierungen seien aber falsche Schwerpunkte gesetzt worden, auch die Schließung der Schulen und Kitas seien „im Nachhinein betrachtet“ falsch gewesen.« Aber bislang hat es noch keine weiterführenden Aktivitäten gegeben

Andere schreiben einen Offenen Brief

Am 23. April 2023 wurde dieser Offene Brief veröffentlicht: Einsetzung einer Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie. Die Ausgangsdiagnose: »Die Corona-Pandemie hat in unserem Land tiefe Spuren hinterlassen und eine unzureichende Krisenfestigkeit unserer Gesellschaft offenbart. Viele Menschen fühlen sich nach der Pandemie alleingelassen mit ihren Enttäuschungen, Ängsten und Verlusterfahrungen und haben Vertrauen in staatliche und wissenschaftliche Institutionen verloren. Es wurden Existenzen zerstört und Lebenspläne über den Haufen geworfen, Freundschaften und Familien sind an der Polarisierung der Gesellschaft zerbrochen. Zwar wächst die Einsicht, dass unsere Reaktion auf die Bedrohung durch das Virus in vielerlei Hinsicht nicht optimal war, dass beispielsweise die langen KiTa-, Schul- und Hochschulschließungen nicht verhältnismäßig waren und Familien, insbesondere Mütter, nachhaltig belastet haben. Ebenso werden psychische und soziale Vereinsamung der vulnerabelsten Gruppen (z.B. psychisch Kranke und hochbetagte Menschen) als Kollateralschäden nicht hinreichend austarierter Schutzmaßnahmen anerkannt. Doch bleibt die bisherige Reflexion über die Pandemie zu punktuell und zu sehr vom Streben nach politischer und medialer Meinungshoheit geprägt. Es bedarf einer geordneten und systematischen Aufarbeitung, um robuste Lehren für zukünftige Krisen zu ziehen und ähnliche Fehler zu vermeiden.«

»Wir schließen uns daher Forderungen nach Einsetzung einer Kommission zur Aufarbeitung der Pandemie an. Eine offene, kritische und konstruktive “Nachbesprechung” ist unverzichtbarer Teil eines jeden professionellen Krisenmanagements. Dabei ist neben dem objektiven Lernprozess auch die integrative Wirkung einer offenen Debatte auf die Zivilgesellschaft wesentlich. Hierzu gehört ein sachlicher Austausch unterschiedlicher Standpunkte als zentrales Merkmal einer demokratischen Diskussions- und Lösungskultur.«

Und was genau soll diese Kommission machen? Auch dazu findet man Vorschläge in dem Offenen Brief:

»Die Kommission sollte erstens die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie und Kollateralschäden umfassend untersuchen und Strategien für ihre Bewältigung und zukünftige Vermeidung erarbeiten.«

»Die Kommission sollte zweitens das Pandemiemanagement kritisch überprüfen. Dabei gilt es einerseits, Rückschaufehler zu vermeiden, andererseits aber auch ex ante übersehenes Wissen und Handlungsalternativen zu benennen, die Lernfortschritte der letzten drei Jahre zu integrieren und Vergleiche mit anderen Ländern heranzuziehen. Auch Beispiele guter Krisenbewältigung auf nationaler und internationaler Ebene gilt es herauszuarbeiten.«

Um zu vermeiden, dass es zu der am Anfang dieses Beitrags skizzierten Gefahr einer Instrumentalisierung der Aufarbeitung im Sinne einer „Abrechnung“ kommt, wird in dem Offenen Brief ausgeführt:

»Für sachlich solide Ergebnisse und die angestrebte befriedende Wirkung braucht es dabei tragfähige organisatorische und methodische Arbeitsgrundlagen.«

Was verstehen die Verfasser darunter?

➞ Die Aufarbeitung sollte möglichst entpersonalisiert und unabhängig von politischen Interessen aus einer systemischen Perspektive erfolgen.
➞ Bei der Auswahl der Kommissionsmitglieder und der Anhörung weiterer Sachverständiger ist eine breite Repräsentation relevanter nationaler und internationaler Expertise anzustreben.
➞ Fachlich fundierte Kritik am Pandemiemanagement der letzten drei Jahre muss eingebunden werden.
➞ Interessenkonflikte aufgrund von Beratertätigkeiten und anderer relevanter Funktionen sollten minimiert werden.
➞ Zur Vertrauensbildung ist ein hohes Maß an Transparenz und Öffentlichkeit des Verfahrens erforderlich.
➞ Erfahrungen der Menschen in unserem Land müssen in angemessener Weise in die Arbeit der Kommission einfließen, etwa in Anlehnung an das “listening exercise” des COVID-19 Inquiry im Vereinigten Königreich.

Der Blick über den Kanal: Großbritannien

Der letzte Hinweis – in Anlehnung an das “listening exercise” des COVID-19 Inquiry im Vereinigten Königreich – hört sich interessant an, offensichtlich gibt es da schon etwas, was es hier bei uns noch nicht gibt. Weitere Informationen dazu finden Sie auf deren Website:

UK Covid-19 Inquiry. The independent public inquiry to examine the Covid-19 pandemic in the UK.

Das British Medical Journal (BMJ) hat in diesem Zusammenhang eine eigene Seite eingerichtet:

Covid Inquiry: »This series of articles analyses the successes and failures of the pandemic response in the UK, how information was misused, abused, and manipulated, and how politicians used, and failed to use, evidence in response to the covid-19 pandemic.«

Und in Frankreich geht man einen eigenen Weg bei dem Versuch, die Pandemie wenn nicht aufzuarbeiten, so doch den Erinnerungen Raum zu geben

Stefan Brändle berichtet am 15. März 2023 unter der Überschrift Die Franzosen arbeiten die Corona-Zeit auf aus unserem Nachbarland: »Lockdown, Impfpflicht, geschlossene Schulen: Frankreich ging gegen die Pandemie härter vor als andere Länder. Jetzt wird rückblickend diskutiert, ob das richtig war.«

Lesen wir weiter: »War da was? Wer heute die Pariser Metro benützt, sieht kaum mehr Masken vor den Gesichtern der Passagiere. In den Krankenhäusern herrscht wieder Platz, und am 26. Februar gab es in Frankreich erstmals keinen einzigen Covid-bedingten Todesfall mehr im ganzen Land. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der Krise waren täglich 418 Angesteckte gestorben, in der „Hölle von Mulhouse“, wie die Medien den Sonderfall der Stadt im Elsass nannten, starben einmal an einem Tag 81 Menschen an Covid-19.
Man erinnert sich wie an einen skurrilen Traum: Von März bis Mai 2020 herrschte in Frankreich nach 18 Uhr Ausgangssperre. Man durfte sich gerade einmal einen Kilometer weit um seinen Wohnort bewegen; auch wer seinen Hund ausführte, brauchte einen Ausweis. Präsident Emmanuel Macron griff in seiner unterirdischen Kommandozentrale durch und ließ impfwillige Krankenschwestern vor die Tür setzen. Gewohnt an die paternalistische Autorität ihres Staatschefs, spielten die Französinnen und Franzosen mehrheitlich mit, auch wenn ihnen die Krisenzeit lang wurde. Erst im Sommer 2022 hob das französische Parlament den Ausnahmezustand auf. Heute bewirkt das Thema Covid nur noch Schulterzucken. Inflation und Krieg in der Ukraine haben die Pandemie verdrängt.«

Wenn Sie bis hier gelesen haben, könnte bei Ihnen die Frage auftauchen, wo und wie denn nun die Franzosen die Pandemie aufarbeiten, außer, dass sie die Fragen stellen, die auch bei uns gestellt werden. Davon erfahren wir in dem Artikel leider nichts.

Und auch in Frankreich gab es die „Corona-Leugner“, das Thema einer unserer Arbeitsgruppen. Dazu Brändle: »Die Impfgegner schimpfen zwar, die Staatsführung habe dem Volk monatelang Sand in die Augen gestreut. Viele „Antivax“ sind aber schon weitergezogen und haben zu Putin-Verstehern oder chronischen Verschwörungstheoretikern mutiert. Ihre momentan bekannteste Stimme, „Elpis R“, stellt heute im Schutz seiner Anonymität die Klimaerwärmung infrage.«

Und nicht überraschend ist man auch bei unseren Nachbarn mehr als unsicher: »Allerdings stellen in Paris auch seriöse Ärzte wie Gérald Kierzek die Frage: „Haben wir die Covid-Drohung überschätzt?“ Seine Antwort: „Wahrscheinlich.“ Was er anders gemacht hätte, vermag er aber auch nicht zu sagen. Die Zahlen sprechen weiterhin für sich: Bis zu 500.000 Neuansteckungen an einem einzigen Tag hatte es gegeben; 165.000 Tote verursachte Covid-19 in Frankreich. Ohne Impfung lägen die Zahl wohl um ein Mehrfaches höher. Jean-Claude Manuguerra, Interventionsleiter am Institut Pasteur, hält das restriktive Vorgehen jedenfalls auch im Nachhinein für gerechtfertigt: „Gegenüber einer neuen Pandemie kann man nicht vorsichtig genug sein.“«

Und dann wird ein Punkt erwähnt, den man auch in den Stellungnahmen bei uns in Deutschland lesen oder hören kann: »Jean-François Delfraissy, der allmächtige Chef des französischen Covid-Rats, räumt einzig ein, die Altersheime seien wohl zu radikal unter Quarantäne gestellt worden: Viele alte Leute hätten mehr unter Einsamkeit als unter Covid-Symptomen gelitten.«

Aber es gibt in Frankreich einen durchaus interessanten und von den gängigen Aufarbeitungsformaten abweichenden Versuch.

Hierzu empfehle ich Ihnen diesen kurzen Podcast, in dem über einen ganz speziellen Ansatz in Frankreich berichtet wird:

➔ Deutschlandfunk: Corona geht, der Kummer bleibt – Frankreich erinnert an seelische Folgen (04.05.2023)